Daniel

© Martin Quast / pixelio.de

„Plötzlich lag ich auf dem Gehweg vor unserem Haus“, beginnt Daniel. „Ich hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gekommen war. Aber ich spürte große Schmerzen und konnte meine Beine nicht bewegen. Dann muss ich das Bewusstsein verloren haben. Denn als ich wieder zu mir kam, lag ich in einer Krankenstation, beide Beine fest eingebunden und an einem Gestell aufgehängt. Und mein erster Gedanke war: Jetzt foltern sie dich!“

Doktor Jennrich denkt einen Moment nach, dann fragt er: „Können sie jetzt beschreiben, was damals passiert ist?“ „Ja, so ungefähr“, antwortet Daniel. „Ich konnte mich später wieder daran erinnern, dass dies an einem Sommerabend geschehen war, als es schon dämmrig wurde. Ich lag im Wohnzimmer auf dem Sofa und machte ein Computerspiel auf dem Fernseher. Da hörte ich das Geräusch eines großen Hubschraubers, der direkt auf unser Haus zuflog. Und schlagartig sah ich die Bilder aus Afghanistan wieder vor mir: Hubschrauber kommen im Tiefflug heran und schießen auf die Häuser und auf alles, was sich bewegt. Da gibt es nur noch eines: Sofort hinaus aus dem Fenster springen und eine sichere Deckung suchen. So muss es an diesem Abend wohl gewesen sein. Das einzig Dumme daran war, das unsere Wohnung im zweiten Stock des Hauses war. Und in meiner Panik muss ich wohl gesprungen sein.“

Daniel denkt lange nach. „Als ich 18 geworden war, habe ich mich freiwillig für mindestens 12 Jahre zur Bundeswehr verpflichtet. Ich komme aus einer ordentlichen Familie, mein Vater war Rechtsanwalt und meine Mutter Lehrerin. Ich wollte auch etwas Gutes und Wichtiges für unsere Gesellschaft tun. Und ich hatte großes Interesse an Technik. Da habe ich mich für die Bundeswehr entschieden, zuerst für den aktiven Dienst und später dann für ein technisches Studium an der Bundeswehrhochschule. Und so bin ich acht Jahre später nach Afghanistan gekommen. Doch dann begann die Hölle: Heckenschützen, Minen, Luftangriffe, Attentate. Manches Mal konnten wir es schon nicht mehr unterscheiden, ob es Freunde oder Feinde waren, die auf uns schossen. Also mussten wir immer vorsichtig sein – und schneller: eine Hand am Abzug und eine sichere Deckung im Blick. Fünf meiner Kameraden sind vor meinen Augen getroffen worden, vier tödlich und einer mit einem Kopfschuss schwer verletzt, so dass er heute nicht einmal mehr weiß, wer er eigentlich ist. Fast jeden Tag habe ich solche Bilder gesehen Und abends war ein Einschlafen kaum noch möglich. Deshalb holte ich mir regelmäßig Schlafmittel bei unseren Sanis. Aber als mein Bedarf immer größer wurde, machten sie Stopp. So fing ich an, mir Cannabis zu besorgen. Das gab es im nahe gelegenen Dorf reichlich und günstig im Angebot.“

„Wurde das nicht kontrolliert?“, fragt Doktor Jennrich. „Doch“, antwortet Daniel, „aber es gab immer nur Stichproben. Und wer mit Stoff erwischt wurde, der erhielt beim ersten Mal nur eine Verwarnung und beim zweiten oder dritten Mal eine kleine Disziplinarstrafe. Und nur wer es übertrieb oder regelmäßig erwischt wurde, der wurde vorzeitig nach Deutschland zurückgebracht. Was konnte also schon passieren? Und wenn schon, dann hätten sie mindestens die halbe Mannschaft nach Hause schicken müssen! Nach sechs Monaten war mein Auslandsaufenthalt ohnehin beendet. Drei Wochen wurde ich danach von einem Bundeswehr-Psychologen begutachtet, der mich dann mit dem Vermerk ’stabil‘ in den verdienten Urlaub schickte.“ Daniel schweigt.

„Sie haben sich sicherlich auf ihre Familie gefreut“, nimmt Doktor Jennrich das Gespräch wieder auf. „Ja, sicher“, nickt Daniel, „aber die Freude war nur von kurzer Dauer. Immer wenn ich im Zimmer war und eines von unseren Kindern leise hereinkam, dann habe ich mich sofort auf sie geworfen, um den vermeintlichen Angreifer zu überwinden. Ich konnte keine Kriegsfilme mehr sehen. Und auch mit meiner Frau lief es nicht mehr so richtig. Solange ich genügend Stoff bei mir hatte, ging alles gut. Aber wenn ich zwei bis drei Tage lang keinen Stoff mehr hatte, dann wurde ich unausstehlich und aggressiv – jedes Mal ein kleines bisschen mehr. Also besorgte ich mir schließlich Heroin, dies ließ mich endlich ruhiger und entspannter werden, wenigstens für einen halben Tag. Doch es half alles nichts mehr. Meine Frau suchte sich mit unseren beiden Kindern eine eigene Wohnung. ‚Du musst erst einmal wieder zu dir selbst finden‘, sagte sie, ‚dann können wir es auch wieder gemeinsam als Familie versuchen‘. Und so tröstete ich mich mit dem Heroin – bis ich auf dem Gehweg aufgeschlagen bin.

Im Krankenhaus entdeckten sie sehr schnell, dass meine beiden gebrochenen Beine nicht das ganze Problem waren – trotz der komplizierten Mehrfachbrüche und des langwierigen Heilungsverlaufes. So kam eine Sozialpsychologin regelmäßig zu mir und half mir in vielen Gesprächen am Krankenbett, die Zeit in Afghanistan aufzuarbeiten. Und sie hat mich auch dazu ermuntert, einen Entzug zu machen, und den Kontakt zu meiner Frau und meinen beiden Kindern vermittelt. Den ersten Schritt habe ich geschafft, er war mühsam und ziemlich hart. Darauf bin ich stolz. Jetzt bin ich nach Toppenstedt gekommen und will hier meine Chance nutzen…“ (Weiter: In der Gruppe)


Die beispielhaften Lebensgeschichten sind auf der Grundlage von anonymisierten Auszügen aus Fallprotokollen geschrieben werden. Alle Namen – sowohl die der PatientInnen als auch die der TherapeutInnen – wurden geändert. Die Fotos sind Symbolfotos, um die PatientInnen zu schützen.